Wyss, Paul (1875–1952), Kunstgewerbelehrer, Bern

 Andreas Heege, Andreas Kistler 2019

Paul Wyss (* 12. Dezember 1875 in Brienz; † 29. April 1952 in Bern) war ein Schweizer Maler, Zeichner, Grafiker und Kunstgewerbelehrer. Sein Lebensmotto war „Wirket, solange es Tag ist“ (Bohneblust 2000).

Sein Vater, Johann Wyss (1844–1887), Sekundarlehrer in Brienz, hatte sich in der Zeit der Hochblüte des Fremdenverkehrs auf das Anlegen von Herbarien mit Alpenblumen als Souvenirs spezialisiert. Der kleine Paul half beim Sammeln der Blumen und entwickelte dabei seine Freude und Beobachtungsgabe an den Pflanzen.

1885 wurde Vater Johann nach Langnau im Emmental in die Redaktion des Emmenthaler–Blattes berufen. Er musste dort seinen Vetter Gottlieb Bracher bei der handschriftlichen Verfassung der Adressen-Verzeichnisse unterstützen. Er legte überall dort, wo auf der Redaktion Not am Mann war, Hand an. Sein Sohn Paul, mittlerweile Sekundarschüler, half ihm dabei nach Kräften. Im Pfarrhaus lernte Paul den kunst- und kulturliebenden Pfarrer Ernst Müller und seine Familie kennen, was in ihm den Wunsch erweckte, Kunstmaler zu werden. Sein Vater aber warnte ihn vor diesem „Hungerberuf“.

So bildete sich Paul Wyss am Seminar Hofwil zum Primarlehrer aus und übernahm anschliessend die Mittelschule Ilfis in Langnau. Er unterrichtete die Langnauer Handwerksschüler im Zeichnen und Gestalten. Dazu bildete er sich weiter und schloss das Sekundarlehrer-Studium nach drei Semestern ab. Anschliessend besuchte er die Kunstgewerbeschule in Strassburg, wo er von dem deutschen Kunstgewerbe-Professor Anton Johann Nepomuk Seder (1850–1916) aus München, einem Wegbereiter des floralen Jugendstils und “Erneuerer der Soufflenheimer Keramik”, gefördert wurde. Seder war dort seit 1890 angestellt und hatte von 1878 bis 1882 auch die Kunstgewerbeschule des Technikums in Winterthur CH geleitet. Seder vertrat das Prinzip: “Im Geiste des Alten Neues zu schaffen”. Seders künstlerisches Schaffen fand unter anderem Ausdruck in Vorlagenbüchern wie “Die Pflanze in Kunst und Gewerbe” (Seder 1886), “Das Thier in der decorativen Kunst” (Seder 1896) sowie weiteren Werken, die sich ausdrücklich an das Kunstgewerbe richteten (Seder 1899, 1900, 1901). “Seder war einer der Theoretiker des frühen Jugendstils. Er gehörte der Generation derer an, die es verstanden, die Imitation des Herkömmlichen durch die Studie der Natur, der Imitation der an Fauna und Flora entliehenen Formen, zu ersetzen … Mit seiner Kombination von Unterricht und Werkstattbetrieb setzte er neue Massstäbe im Kunsthandwerk mit dem Ziel die Distanz zwischen Kunst und Handwerk, Theorie und Praxis, Künstler und Arbeiter aufzuheben. Bereits im Ausbildungsstadium wurden die Forderungen der Jugendstilbewegung nach der Verschmelzung von Kunst und Nützlichem verwirklicht” (Richez 2009,  157 und 163) .

In Strassburg lernte Paul Wyss die unerlässliche Notwendigkeit des Naturstudiums und die von Prof. Seder entwickelten Stilisierungsverfahren zur Entwicklung neuer Dekorationsarten kennen (Ball-Spiess 1987, 114-115; vgl. auch die Laudatio zu seinem 60. Geburtstag in “Die Berner Woche in Wort und Bild : Ein Blatt für heimatliche Art und Kunst, 25, 1935, 947-948). Bald offerierte ihm Seder eine Assistenzstelle. Doch Paul Wyss konnte die Bedingung, Deutscher zu werden, nicht annehmen und zog es vor, wieder nach Bern zurückzukehren, wo er fortan als Zeichenlehrer wirkte. Nach seiner Rückkehr heiratete er (1900) die älteste Tochter Hanna Müller aus dem Langnauer Pfarrershaushalt. Diese schenkte ihm zwei Söhne. Nach ihrem frühen Tod 1906 verheiratete sich Paul Wyss (1909) ein zweites Mal mit Rosa Jenzer, mit der er einen dritten Sohn bekam.

Das Kantonale Gewerbemuseum Bern (gegründet 1869) engagierte Paul Wyss bei seiner Rückkehr von Strassburg im Jahr 1900 als künstlerischen Berater  und Zeichenlehrer/Entwerfer für Kunstgewerbler und Handwerker. In Weiterbildungskursen förderte er ab 1903  vor allem die Töpfer von Heimberg und Steffisburg.

1906 äusserte er sich “Zum Geist des modernen Stils” (Wyss 1906a) und im selben Jahr befasste er sich in einem gedruckten Vortrag mit “Stand, Problemen und Hebung des Töpfergewerbes” (Wyss 1906b).

Die Bemühungen führten schliesslich  im August 1906, trotz ablehnender Haltung der Gemeinde Heimberg, zur Gründung einer Töpfer- und Zeichenschule in Steffisburg, die bis 1921 Bestand haben sollte. Als Lehrer fungierten dort neben Paul Wyss auch der bernische Zeichenlehrer Ferdinand Huttenlocher  und der bernische Keramiker, Zeichner und Grafiker Friedrich Ernst Frank, der ansonsten vor allem für die Manufaktur Wanzenried in Steffisburg arbeitete (vgl. Buchs 1980; Buchs 1988,  69-77).

1908 fasste Oscar Blom, Direktor des Gewerbemuseums in Bern, die Bemühungen um die Verbesserung der Töpferei in der Region Heimberg-Steffisburg noch einmal in einem Rechenschaftsbericht zusammen (Blom 1908). In einer fünfteiligen Artikelserie beschäftigte sich 1908 auch das Tagblatt der Stadt Thun mit der “Töpfereifrage Heimberg-Steffisburg-Thun” basierend auf den Anregungen von Paul Wyss und dem Bericht von Oscar Blom.

Aus der gemeinsamen Arbeit von Wyss und Frank in Steffisburg haben sich die Unterlagen für einen abgehaltenen Zeichenkurs  sowie einige wenige Objektfotos erhalten.

Erste Erfolge der Steffisburger Schule aus dem Jahr 1907 wurden 1908 auch bildlich im Jahresbericht  des Bernischen Gewerbemuseums präsentiert.

Zum Lehrgang in der Töpferschule Steffisburg und den vermittelten grafischen Fähigkeiten äusserte sich Wyss auch in einem Artikel der 1909 in “Blätter für den Zeichen- und gewerblichen Berufsunterricht = Revue suisse de l’enseignement professionnel 34 (1909), Nr.  9, 10, 12 und 18” erschien.

In diesem Artikel findet sich auch ein Bildbeispiel moderner Heimberger Keramik, das die Ziele von Paul Wyss illustrieren soll.

Ab November 1909  bildete Paul Wyss auch in Langnau  die Hafner und Keramikmalerinnen weiter (Zeichenkurs). In einem biographischen Abriss zu seinem 60. Geburtstag wird ausdrücklich darauf verwiesen, dass Hafner aus Langnau, Schüpbach, Grünenmatt und Oberburg an seinen Kursen teilnahmen (Messerli 2017, 93).

Intelligenzblatt der Stadt Bern  16. und 25. August 1910.

Leider werden keine Namen genannt, doch dürfen wir auch aufgrund der späteren Kontakte und Produkte davon ausgehen, dass es sich u.a. um Mitarbeiterinnen, Kinder, Gesellen oder Meister der Töpfereien Gerber in Hasle, Kohler in Schüpbach, Mosimann in Oberburg sowie Röthlisberger, Aegerter und Werthmüller in Langnau gehandelt haben dürfte (vgl. Heege/Kistler 2017, Hafnertabelle).

Geschäftsblatt des oberen Teils des Kantons Bern 57 Num 103  vom 24. Dezember 1910 unter Bezug auf die Weihnachtsausstellung des Gewerbemuseums in Bern.

Die Presse reagierte sehr positiv auf die Ergebnisse seiner Bemühungen und hielt sie den Heimberger Hafnern als Beispiel vor.

Seine Aufmerksamkeit erhielten auch die Schnitzler in Brienz, die Spitzenklöpplerinnen im Lauterbrunnental, Kunstschlosser, Schreiner, Glasmaler und Grafiker. Er erweckte die Oberhasler Handweberei zu neuem Leben und erforschte die vielfältige Entwicklung der Berner Tracht, der er zu neuen Ehren verhalf und mit einer Sammlung von Illustrationen dokumentierte. Bei der Gründung der Bernischen Trachtenvereinigung unter dem Protektorat des Bernischen Heimatschutzes im Jahr 1929 finden wir Paul Wyss dementsprechend auch neben Frau Bühler-Hostettler im Trachtenausschuss.

Für die Schweizerische Landesausstellung von 1914 schuf er eine Künstlerpostkarte und war neben Kunstmaler R. Münger Mitglied des Preisgerichts des Wettbewerbs für Reiseandenken den das Bazarkomitee der Landesausstellung veranstaltet hatte (Schweizerische Metallarbeiter Zeitung 12, Nr. 28, 12. Juli 1913). Ausserdem präsidierte er die Ausstellungsgruppe 23: Keramische und Glasurwaren (Schweizerische Landesausstellung in Bern, Illustriertes Ausstellungsalbum, Bern 1914, 315).

Er schuf für zahlreiche bernische Hafnereien Motivvorlagen für die Bemalung der Geschirre. Erhalten geblieben sind davon zahlreiche Exemplare für die Hafnereien Friedrich Röthlisberger und Adolf Gerber in Langnau (Heege/Kistler 2017, 187–193).

 

Als Soldat blieb Paul Wyss Zeit seines Lebens seinem Emmentaler Bataillon 40 eng verbunden. Die Mobilmachung im 1. Weltkrieg führte ihn mit dem Festungs-Infanteriebataillon 171 auf den Gotthard. Seine Eindrücke und Erlebnisse aus dieser Zeit hat er in verschiedenen Zeichnungen festgehalten, die auch gedruckt vorliegen. Ausserdienstlich war er im Kreise der Militärschützen in Bern auch im Vorstand tätig. Ehrenamtlich betätigte er sich während langer Jahre auch als Kirchgemeinderat der Heiliggeist-Gemeinde und im Rahmen der Gemeindekrankenpflege.

Im Jahr 1918 wurde Paul Wyss ans städtische Gymnasium Bern als Zeichenlehrer gewählt, wo er bis zu seiner Pensionierung unterrichtete. Neben seiner Lehrtätigkeit entstand im Berner Oberland und im Emmental auch ein umfangreiches künstlerisches Werk an Zeichnungen, Aquarellen und Ölbildern, die zum Teil im Alpenhornkalender und in Beilagen zum Emmenthaler-Blatt publiziert wurden. Dabei gehörten die humorvollen Bärenkarrikaturen zu seinen Lieblingsmotiven.

Als Künstler entwarf Paul Wyss Plakate, Vereinsfahnen, Urkunden und vielerlei Illustrationen für Bücher und eigene Publikationen. Besondere Beispiele sind die Illustrationen für die Werke seiner Schwägerin, der bedeutenden Heimatschriftstellerin Elisabeth Müller (1885-1977).

Am 29. April 1952 verstarb Paul Wyss in Bern.

Bibliographie:

Ball-Spiess 1987
Daniela Ball-Spiess, «Wie ist das Kunstgewerbe in der Schweiz zu heben und zu pflegen?» Der Beitrag von Nora Gross (1871–1929) zur ästhetischen Erziehung. Dissertation, Universität Basel, Bern 1987, besonders 114-115.

Blom 1908
Oscar Blom, Die Förderung der Majolika-Industrie in Heimberg-Steffisburg-Thun durch das kantonale Gewerbe-Museum in Bern, in: Jahresbericht pro 1907 des kantonalen Gewerbemuseums Bern, 1908, 1-9.

Bohnenblust 2000
Emil O. Bohnenblust, Der Berner Paul Wyss – sein Leben und Werk. Erinnerungen an einen gütigen Menschen und grossen Maler. Bärner Brattig, 2000, Nr. 4, S. 7 und 9.

Buchs 1980
Hermann Buchs, Die Thuner Majolika des Johannes Wanzenried und des Zeichners Friedrich Ernst Frank, in: Jahresbericht Historisches Museum Schloss Thun, 1980, 5-43.

Buchs 1988
Hermann Buchs, Vom Heimberger Geschirr zur Thuner Majolika, Thun 1988.

Heege/Kistler 2017
Andreas Heege/Andreas Kistler, Keramik aus Langnau. Zur Geschichte der bedeutendsten Landhafnerei im Kanton Bern (Schriften des Bernischen Historischen Museums 13), Bern 2017.

Messerli 2017
Christoph Messerli, 100 Jahre Berner Keramik
von der Thuner Majolika bis zum künstlerischen Werk von Margrit Linck-Daepp (1987-1983). Hochschulschrift (Datenträger CD-ROM), Bern 2017, besonders  87-95.

Richez 2009
Jean-Claude Richez, Städtische Kunstgewerbeschule Straßburg (1889–1914). Wegbereiter des Jugendstils oder Prüfstand der Moderne im Elsass, in: Dorothee Kühnel/Joanna Flawia Figiel/Elisabeth Gurock, Jugenstil am Oberrhein, Karlsruhe 2009, 154-163.

Seder 1886
Anton Seder, Die Pflanze in Kunst und Gewerbe, Wien 1886.

Seder 1899
Anton Seder, Kunstgewerbliches Skizzenbuch für Metall-Glas-Industrie und Keramik, Stuttgart 1899.

Seder 1900
Anton Seder, Die Kunstgewerbeschule Strassburg i. Elsass und ihre Entwicklung : Vorlagen für das Kunstgewerbe, Strassburg i. Elsass 1900.

Seder 1901
Anton Seder, Neue Bestrebungen im Zeichenunterricht, Straussberg 1901.

Wyss 1906a
Paul Wyss, Der Geist des modernen Stiles mit spezieller Berücksichtigung der Holzschnitzerei, in: Jahresbericht für das Jahr 1905 des Kantonalen Gewerbemuseums Bern 37, 1906, 40-46.

Wyss 1906b
Paul Wyss, Stand, Probleme und Hebung des Töpfergewerbes, Vortrag von Herrn P. Wyss, Zeichner am Gewerbemuseum Bern (Umschlag: Nach dem Vortrage von Hrn. P. Wyss … in Bern niedergeschrieben von Hermann Röthlisberger, Sel.-Lehrer in Steffisburg, No. 14-19 Oberländer Volksfreund Jhrg. 1 (Hrsg.), Steffisburg 1906.

Nachruf im Emmenthaler-Blatt vom 5. Mai 1952