Glutstülpen, Backglocken, Kartoffelbräter, Backdeckel, Brotbackdeckel?
Schüsselförmige Deckel in CERAMICA CH
Andreas Heege 2019
Dieser Deckeltyp ist zahlreich aus archäologischen Fundstellen und nur ausgesprochen selten in musealen Zusammenhängen überliefert (RMC H1975.396, RML B76). Die Typbezeichnung «schüsselförmiger Deckel» wurde mangels eines eindeutigen zeitgenössischen Begriffes gewählt, da die Objekte aus Schüsselformen bestehen, an deren Boden meistens ein weit gespannter Bügelgriff angebracht ist (Heege 2016, Kat. 269–296; Abb. 207,1–17). Knopfförmige Knäufe sind dagegen selten (Heege 2016, Kat. 279). Bei der Mehrzahl der Deckel können ein oder zwei Lüftungslöcher, oft am Ansatz des Bügelgriffes oder in 90-Grad-Stellung dazu, beobachtet werden. Diese erlauben, die Luftzirkulation und die Sauerstoffversorgung für Glut, die sich unter dem Deckel befand. Der Aussenrand und die Innenseite der Deckel weisen sehr oft Verrussungsspuren auf, was auch für eine Funktion als Glutstülpe sprechen könnte. Dagegen fehlen eindeutige Russ- oder Brandspuren auf der Aussenseite. Diese ist meist ohne bzw. mit weisser oder roter Grundengobe farblos oder grün glasiert. Es kommen auch Malhorndekor, Farbkörper in der Grundengobe und Manganglasur sowie eine grob gemagerte Kochgeschirr-Variante vor (Heege 2016, Abb. 203). Dagegen gibt es erstaunlicherweise kein einziges Individuum in hellscherbiger Irdenware, d.h. aus süddeutscher Produktion.
Da es sich mit den entsprechend grossen Randdurchmessern um Schüsselformen handelt, lässt sich auf diesen Deckeltyp auch die Schüsseltypologie anwenden. Es kommen Schüsseln mit fast horizontalem Rand (De-sch-SR 11, Randdurchmesser 30 cm; Heege 2016, Kat. 270; Abb. 209,1), Übergangsformen zu schräg nach aussen abgestrichenen Rändern (De-sch-SR 11 Var./SR 12c, Randdurchmesser 24 cm; Heege 2016, Kat. 269; Abb. 209,2) und fast senkrecht oder schräg abgestrichene Ränder (De-sch-SR 12c, Randdurchmesser 26 bis 27 cm; Heege 2016, Kat. 271–273; Abb. 209,4) vor. Letztere unterscheiden sich nicht sehr deutlich vom folgenden, mengenmässig dominierenden Schüsseltyp mit einem ausgeprägten Kragenrand und Malhorndekor auf roter Grundengobe (De-sch-SR 17, Randdurchmesser 19,5 bis 34 cm; Heege 2016, Kat. 274–279; Abb. 209,3.7.8). Daneben gibt es Exemplare mit aussen leistenartig verdickten und entweder profilierten (De-sch-SR 19, Randdurchmesser 26 bis 32 cm; Heege 2016, Kat. 280–282; Abb. 209,5.6.9), glatten (De-sch-SR 22, Randdurchmesser 17 bis 34 cm; Heege 2016, Kat. 283–286; Abb. 209,10.11.13) oder gekehlten Randaussenseiten (De-sch-SR 23; Heege 2016, Kat. 287–289; Abb. 209,12.14.15). Vor allem die Häufung der Schüsselform SR 17 gibt in Verbindung mit den Dekoren einen Hinweis auf eine überwiegende Zeitstellung im 19. Jahrhundert, was durch das einzige in das Jahr 1882 datierte Museumsexemplar aus dem Rätischen Museum in Chur (RMC H1975.396) bestätigt wird. Dieses wurde in Schaan im Antiquitätenhandel erworben. Die Datierung dieser Gefässform ins 19. Jahrhundert kann durch weitere archäologische Bodenfunde z.B. aus Schloss Hallwil AG (Lithberg 1932, Taf. 297,E.) gestützt werden. Uwe Gross hat ähnliche Deckel aber mit abweichenden Randformen, sowohl mit symmetrisch bogenförmigen als auch mit asymmetrischen Griffen aus einem vor 1817 entstandenen Fundkomplex in Schwäbisch Gmünd veröffentlicht (Gross 1999, 679, Abb. 16,19.20.22). Diesem Vorkommen in Baden-Württemberg lassen sich z. B. weitere, wohl vor 1808 in den Boden gelangte Exemplare aus Lobenfeld und weniger präzise zu datierende Stücke aus Edingen-Neckarhausen anschliessen (Gross 2001, Abb. 238,10–12; Gross 2003, Taf. 20,4–6; Gross 2012, 166, Taf. 9,8). Deckel mit asymmetrischen Griffen zeigt auch eine 1843 datierte Darstellung einer baden-württembergischen oder bayerischen Hafnerwerkstatt (Bauer 1980, Abb. 11.), die durch ein Deckelhalbfabrikat aus der Hafnerei Griesser in Dirlewang im Unterallgäu und ein Museumsstück aus Lauingen ergänzt werden kann (Czysz/Endres 1988, 199 Kat. 264, 224 Kat. 342. Vgl. auch Grasmann 2010, Taf. 3,8). Vermutlich handelt es sich auch bei einem unglasierten Objekt aus der Alten Landvogtei in Riehen um einen vor 1807 abgelagerten schüsselförmigen Deckel (Matteotti 1994, Taf. 3,23), der in der Region Basel offenbar keinen Einzelfall darstellt (Springer 2005, Taf. 8,194, eventuell auch 195). Diesem können auch auf weisser Grundengobe aussen grün glasierte Exemplare aus dem Unterhof in Diessenhofen (Junkes 1995, Abb. 224,236.238.239), von der Burg Hohenklingen bei Stein am Rhein (Heege 2010a, Kat. 159, 227, 903, 904, 1126, 1252) bzw. aus einer münzdatierten Kloake des 18./19. Jahrhunderts in Grüsch (Gredig 1992, Abb. 7 unten) angeschlossen werden. Parallelen liegen auch aus dem bis ins 19. Jahrhundert genutzten Gehöft Balmli bei Illgau SZ (Keller 1998, Fig. 192,60) bzw. malhornverziert aus Grabungen in Langenthal (unveröffentlicht) und Herzogenbuchsee (Baeriswyl/Heege 2008, Abb. 28,77) vor. Unter den Funden der Brunngasshalde in Bern (1787–1832) gibt es ebenfalls Fragmente schüsselförmiger Deckel (Heege 2010b, Abb. 84). Eine über eine gläserne Maggiflasche ins späte 19. Jahrhundert zu datierende Kellerfüllung in Steffisburg, Höchhus Nr. 17, enthielt ebenfalls ein gutes Vergleichsobjekt (Boschetti-Maradi/Gutscher 2004, Abb. 203,27).
Aus Heimberg stammt auch der jüngste datierte Hinweis für die Gefässform und der einzige sichere Produktionsnachweis. Auf einem Töpfereifoto von 1917 sind im Hintergrund schüsselförmige Deckel zu erkennen, die zum Trockenen an die Sonne gebracht worden sind. Möglicherweise handelt es sich um Stücke wie der erhaltene Deckel mit schwarzen und weissen Horizontalstreifen aus dem Regionalmuseum in Langnau (RML B76).
Wir haben es also offenbar mit einem in der ganzen(?) Deutschschweiz verbreiteten Gefässtyp überwiegend des 19. und noch des frühen 20. Jahrhunderts zu tun. Zu diesem finden sich allerdings quellenbasiert (z. B. Kochbücher oder Lebensbeschreibungen) keine eindeutigen funktionalen Anhaltspunkte. Ein schüsselförmiger Deckel, möglicherweise aber aus Metall, findet sich auf dem Bild des Basler Kochs J. J. Bachofen, 1809 (Morel 2000, 157 Abb. 23). Die Herleitung dieses Gefässtyps von den älteren, aber in der Deutschschweiz eher seltenen, keramischen Glutstülpen liegt nahe, bedürfte jedoch des Nachweises einer kontinuierlichen Formüberlieferung mit einem allmählichen Funktionswandel (Vgl. keramische Glutstülpen in der Schweiz: Obrecht 1993, 50 Kat. 12, vor 1400?; Helmig/Jaggi/Keller u.a. 1998, 100 und 101, Kat. 103–108, 16. Jahrhundert?, Inventar mit Malhornwaren; Keller 1999, Taf. 88,1, um 1500, frühes 16. Jahrhundert?, Inventar mit Tellern!; Eggenberger/Tabernero/Doswald u.a. 2005, 245 Kat. 276, vor 1594; Reding 2005, Taf. 2,24, vor 1402). Lediglich Leopold Rütimeyer verweist 1924 in seiner Ur-Ethnographie der Schweiz auf metallene Backglocken oder auf solche aus Lavez im nördlichen Italien, d. h. der Grenzregion zur Schweiz (Rütimeyer 1924, 254–263).
Für ähnliche Objekte, die in Soufflenheim im Elsass im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert als Glocken bzw. «Cloches» (Decker/Haegel/Legendre u.a. 2003, 43) oder «Etouffoir-cloche» (Undatierter Verkaufskatalog der Firma L. Lehmann & Fils, Soufflenheim, nach 1918, Nr. 74). bezeichnet wurden, gibt es den Hinweis, dass sie entgegen der letzten Bezeichnung nicht (nur?) als Glutstülpe («Couvre-feu»), sondern vor allem als Backglocke zum Braten von Kartoffeln («destiné à la cuisson des pommes des terre dans l’âtre») verwendet wurden (Legendre/Maire 1996, 153 basierend auf Favelac o. J., 33).
Denkbar wäre jedoch auch das Backen von Brot (Stockar 1951, 141 und 142; Mohs 1926, 18–20; Cubberly 1995, 60–66) oder das Garen von Fleisch oder Gemüse, wie es bereits seit antiker Zeit im mediterranen und osteuropäischen Raum und noch heute in Kroatien üblich ist (Backglocken im pannonisch-siebenbürgischen Raum: Gavazzi 1965; Balassa/Ortutay 1982, Abb. 33. Zusammenfassend mit Belegen seit der späten Bronze- und frühen Eisenzeit Osteuropas: Wawruschka 2011). Die zunächst über glühender Holzkohle oder in der Asche des Herdfeuers aufgeheizte und anschliessend damit überhäufte Backglocke generierte eine Art Oberhitze. Die Unterhitze lieferte die vorab aufgeheizte Herdplatte, eine Stein- oder eine spezifische keramische Backplatte. Denkbar wäre auch eine metallene Pfanne als Untersatz. Gerätschaften aus Metall (Eisen oder Bronze) – Dreibeinpfannen mit Deckel – mit vergleichbarem Funktionsprinzip werden in der allgemeinen bzw. volkskundlichen Küchengeräteliteratur (Wildhaber 1962, 9 und 11; Dexel 1973, 204 Kat. 264/265; Klever 1979, 69; Rütimeyer 1924, 285–286 mit Abb. 129. Als keramische Kopie: Kluttig-Altmann 2006, 277 (Abb. 177) bzw. z. B. in Basler Kochbüchern als «Tarten Pfanne, Tourtière» (Morel 2000, 62, 138, 145–148 Abb. 19 und 20. Vgl. auch Spycher 2008, 27) seit dem 16. Jahrhundert (Krauss 1999, 167) immer wieder aufgeführt und gelegentlich auch als «Dutch oven» bezeichnet. Auch mit diesen einfachen, aber offenbar sehr effizienten «Mini-Backöfen» ist das Brotbacken und das Garen diverser anderer Speisen oder die Herstellung von Gerichten in einem flachen Wasserbad möglich (Symons 2000, 80; Morel 2000, 147–148; Krauss 1999, 259). Vermutlich trifft dies auch für die hier vorliegende Keramikform zu, bei der das Bewahren der Glut (und die Reduktion der Brandgefahr) genauso möglich war, wie das Backen flacher Brote, von Pfannkuchen, das Braten von Kartoffeln sowie das Garen von Fleisch und Gemüse.
Frz.: Couvercles en forme de bol (Couvre-feux, cloches ou couvercles de cuisson, couvercles à pommes-de-terres dans l’âtre, couvercles pour pains en cocottes ?)
Engl.: Bowlshaped lid (fire-cover, cover for baking or cooking, cover for baked potatoes or bread?)
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